Eigene Marketplace–Platformm / Warum & Wann? Experten-Insights
Immer mehr Unternehmen denken über einen eigenen Marktplatz nach – als logischen Entwicklungsschritt, um den Vertrieb zu skalieren und neue Einnahmequellen zu erschließen. Doch dieser Weg ist nicht immer einfach und führt nicht automatisch zum gewünschten Erfolg. Worauf sollte man achten, bevor man sich entscheidet? Welche Herausforderungen treten beim Aufbau eines Marktplatzes am häufigsten auf? Und welche Technologie unterstützt dieses Geschäftsmodell am besten?
Über ihre Erfahrungen und Beobachtungen sprechen:
- Przemysław Porada, Head of E-commerce bei LUX MED
- Tomasz Cyrek, Country Manager bei VTEX
Wann lohnt es sich, ernsthaft über den Start eines eigenen Marktplatzes nachzudenken?
Przemysław Porada:
Ein eigener Marktplatz ist kein Allheilmittel – und schon gar nicht für jedes Unternehmen sofort geeignet. Wenn ein Unternehmen dynamisch wächst – beispielsweise um 30–40 % jährlich – und dieses Wachstum zufriedenstellend ist, lohnt es sich oft mehr, sich weiterhin auf das Kerngeschäft zu konzentrieren und dort die Position zu stärken.
Ein Marktplatz wird dann zur realistischen Option, wenn das bestehende Wachstumsmodell an seine Grenzen stößt. Wenn der Markt oder das eigene Angebot eine Art „Wachstumsdecke“ erreichen und man neue Impulse braucht, um zu skalieren – dann ist es Zeit, genauer hinzuschauen.
Ein gut funktionierender Marktplatz kann ein echter Wachstumstreiber sein. Aber nur, wenn bereits eine Kundenbasis, Markenbekanntheit und stabile operative Prozesse vorhanden sind. Andernfalls riskiert man, sich ein komplexes Projekt ans Bein zu binden, das mehr belastet als unterstützt.
Entscheidend ist auch eine gut durchdachte Entwicklungsdynamik – sowohl in Bezug auf das Angebot als auch auf das Team, das für die Entwicklung des Marktplatzes verantwortlich sein wird.
Wie sollte man bei der Auswahl von Handelspartnern (Merchants) vorgehen?
Przemysław Porada:
Die Auswahl der Händler darf keinesfalls dem Zufall überlassen werden. Natürlich muss das Angebot zum Profil des Marktplatzes passen, aber noch wichtiger sind Servicequalität, Erfahrung der Partner und ihre Fähigkeit, Bestellungen zuverlässig und termingerecht abzuwickeln.
Für den Endkunden entscheidet häufig genau diese Servicequalität über den Eindruck, den der gesamte Marktplatz hinterlässt – unabhängig davon, wer letztlich die Ware liefert.
Was sind die größten operativen Herausforderungen beim Aufbau eines Marktplatzes?
Przemysław Porada:
Das erste und wichtigste Thema ist das Onboarding der Händler. Allein die Akquise der Partner ist nur ein Teil der Aufgabe – es geht um die gesamte Integration: von der KYC-Prüfung über Vertragsunterzeichnung und technische Einrichtung bis hin zur tatsächlichen Listung der Produkte auf der Plattform. Viele Unternehmen unterschätzen diesen Schritt und verlassen sich darauf, dass die Händler „das schon irgendwie hinbekommen“. Ein großer Fehler – denn ohne gut geplantes und teils automatisiertes Onboarding droht das Projekt sehr schnell aus dem Ruder zu laufen.
Zweitens: Einheitlichkeit des Angebots und Katalogmanagement. Wenn man externe Händler in den eigenen Produktkatalog integriert, muss man volle Kontrolle über Qualität der Inhalte, Beschreibungen, Bilder und insbesondere die Dublettenprüfung haben. Sonst droht ein chaotisches Sortiment, das Vertrauen und Conversion-Rate beschädigt. Hier braucht es erprobte PIM-Systeme, automatisierte Matching-Mechanismen und klare Kooperationsrichtlinien für Händler.
Drittens: Abrechnung. Im Marktplatzmodell bewegt man sich nicht nur in den eigenen Einnahmen, sondern auch im Zahlungsfluss von Hunderten Partnern – in unterschiedlichen Ländern, Währungen und Steuersystemen. Man braucht nicht nur ein stabiles Abrechnungssystem, sondern auch Integrationen mit ERP, KSeF und den Finanzsystemen der Händler. Dazu kommen rechtliche, regulatorische und grenzüberschreitende Abrechnungsthemen. Hier darf es keine Fehler geben – denn sie können nicht nur das Vertrauen kosten, sondern auch reale finanzielle und rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen
Kann man einen Marktplatz als MVP testen?
Przemysław Porada:
Das kommt darauf an, was man unter MVP versteht. Wenn es um eine stufenweise Einführung erweiterter Funktionen geht – wie z. B. Retail Media – dann macht das durchaus Sinn. In diesem Fall bedeutet MVP eine graduelle Erweiterung der Features, nicht aber die Einschränkung zentraler operativer Prozesse.
Ein MVP im Sinne eines „Testballons“ mit eingeschränktem Angebot, wenigen Händlern und nicht ausgereifter Strategie ist dagegen problematisch. Ein Marktplatz lebt per Definition vom Skaleneffekt. Eine zu kleine Anzahl an Produkten oder Partnern liefert keine realistische Basis zur Bewertung des Projekts.
Das ist kein Bereich, in dem man „mal eben was ausprobieren“ sollte. Der Aufbau eines Marktplatzes ist eine strategische Entscheidung, die organisatorische Reife und Investitionsbereitschaft erfordert – sowohl finanziell als auch operativ.
Wie verändert sich die Einstellung von Unternehmen zum Marktplatzmodell, und welche Modelle dominieren?
Tomasz Cyrek:
Noch vor wenigen Jahren wurde der Begriff Marktplatz fast ausschließlich mit Giganten wie Amazon oder Allegro assoziiert. Heute beobachten wir, dass immer mehr mittelständische und große Unternehmen den eigenen Marktplatz als natürlichen nächsten Schritt betrachten – nicht nur als Vertriebskanal, sondern als Möglichkeit, sich strategisch vom Wettbewerb abzuheben.
Am häufigsten umgesetzt wird das hybride Marktplatzmodell – also eine Kombination aus Eigenmarke (1P) und Drittanbieter-Angeboten (3P). So lassen sich Skaleneffekte und Sortimentstiefe mit Kontrolle über Margen, Qualität und Kundenerlebnis verbinden.
Ein eigener Marktplatz erhöht zudem die Krisenresistenz. Er erlaubt Wachstum ohne große Investitionen in Lagerhaltung oder Logistik – dafür ist der Händler verantwortlich. So kann man neue Produktkategorien oder Märkte schneller testen.
Ein gutes Beispiel sind Unternehmen wie OBI, InPost Fresh oder Decathlon Brasilien. Sie konnten durch den Einsatz von VTEX-Marktplätzen ihre Umsätze steigern und neue Märkte erschließen – ohne komplett neue Vertriebskanäle aufbauen zu müssen.
Welche Rolle spielt die Technologie beim Aufbau eines Marktplatzes – und worauf sollte man bei der Auswahl achten?
Tomasz Cyrek:
Technologie sollte ein Enabler sein, kein Bremsklotz. Eine gute E-Commerce-Plattform muss das Unternehmen in dem Tempo skalieren lassen, das zu den eigenen Zielen passt.
Erstens: Integration. Die Plattform sollte eine einfache Anbindung von Händlern (z. B. manuell, via Baselinker oder API), Zahlungssystemen, Logistikpartnern und Technologiedienstleistern ermöglichen.
Zweitens: Flexibilität. Bei VTEX setzen wir auf Composable Commerce – und gehen mit „Pragmatic Composability“ noch einen Schritt weiter: Wir bieten eine Architektur mit eingebauten oder integrierten Standardfunktionen wie OMS, PIM, CMS, KI-basierte Suche, PWA, KI-Chat – und gleichzeitig die Möglichkeit, alles modular und ohne Komplettumbau weiterzuentwickeln. In einem sich ständig wandelnden Markt ist das ein entscheidender Vorteil.
Drittens: Kundenerlebnis. Egal ob der Kunde beim Betreiber des Shops oder bei einem Händler kauft – das Erlebnis muss konsistent, klar und reibungslos sein.
Und schließlich: Betrieb. Auftragsabwicklung, Abrechnung, PIM- und ERP-Integration – all das sollte als integriertes Ökosystem funktionieren, nicht als Flickenteppich voneinander losgelöster Tools.
Ebenso entscheidend ist die Erfahrung des Implementierungspartners. Es geht nicht nur um die Plattform selbst, sondern um das tiefgreifende Verständnis für Geschäftsprozesse, operative Herausforderungen und individuelle Anforderungen. Oft entscheidet genau dieses Know-how über den Projekterfolg
Fazit
Ein eigener Marktplatz ist heute nicht nur ein zusätzlicher Vertriebskanal, sondern eine wirksame Strategie zur Stärkung der Marktposition und Schaffung nachhaltiger Wettbewerbsvorteile. Doch die Einführung ist kein IT-Projekt im klassischen Sinne – es ist ein komplexer, strategischer Prozess, der unternehmerische Reife, organisatorische Bereitschaft und eine durchdachte technologische Architektur erfordert.
Der Aufbau eines Marktplatzes verändert viele Elemente im Unternehmen. Deshalb ist es entscheidend, dass der Implementierungspartner nicht nur Technologie liefert, sondern auch:
- bei der Strategieentwicklung unterstützt,
- Prozesse und Abläufe strukturiert,
- rechtliche und finanzielle Fragen absichert,
- Skalierbarkeit und Weiterentwicklung ermöglicht.
Mit einem solchen Ansatz wird der Marktplatz nicht zum kurzfristigen Trend, sondern zum echten Wachstumsmotor und Wettbewerbsvorteil.
Über die Gesprächspartner
Przemysław Porada – Experte mit über 20 Jahren Erfahrung im E-Commerce, insbesondere im Aufbau von Marktplatzgeschäft und in der Implementierung neuer Online-Vertriebskanäle. Als Head of E-commerce bei LUX MED verantwortet er die Entwicklung moderner Vertriebslösungen. Zuvor leitete er Marktplatz- und Cross-Border-Projekte bei Black Red White und arbeitete für Marken wie Semilac, Wittchen und Leroy Merlin. Seine Expertise reicht von innovativen E-Commerce-Plattformen bis hin zur digitalen Transformation großer Handelsunternehmen.
Tomasz Cyrek – Experte mit 18 Jahren Erfahrung in der Skalierung von Online-Vertrieb auf internationalen Märkten. In der Vergangenheit verantwortete er E-Commerce-Kanäle in 24 europäischen Ländern in Zusammenarbeit mit führenden Marktplätzen. Derzeit ist er Country Manager bei VTEX, einem globalen Anbieter für digitale Handelsplattformen, und Gründer zweier E-Commerce-Startups. Seine Schwerpunkte liegen in Composable Commerce, Omnichannel, Marktplätzen sowie PIM- und Loyalitätsprogrammen.